Unbekanntes Terrain

Kloster Esterwegen im Emsland. Wie lange wir fuhren, kann ich nicht mehr sagen. Auf der Rückfahrt von Esterwegen ließ ich meinen Gedanken freien Lauf und hätte fast das getan, wovor uns eine der Mauritzer Franziskanerinnen an der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers gewarnt hatte: An der Vergangenheit hängen bleiben.

Die Vergangenheit in den Blick nehmen, wie sie war, nicht aber daran hängen bleiben. Das Gehörte, Geschaute einer Wandlung unterziehen – wandeln hinein in die Hoffnung, dass solche Verbrechen am Menschen nie wieder geschehen mögen. Sich selber wandeln in Hoffnungsträger, um Frieden, Gerechtigkeit und Wahrung der Schöpfung das Wort zu reden und Verantwortung zu übernehmen für ein lebenswertes Leben dieser und der kommenden Generation.

Erst im Mai 2006 taten sich der Landkreis Emsland und das Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager in Papenburg zusammen, um auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrations- und Strafgefangenenlagers in Esterwegen die Gedenkstätte aufzubauen. Auch jetzt – 2009 – ist sie noch im Werden. Die Arbeiten sollen erst im Jahr 2011 abgeschlossen sein.

Der hohe Torbogen führt zum Vorhof des Klosters, in dessen Innern sich neben der Klausur der Schwestern vor allem das „geistige Obdach“ für die zahllosen Besucher findet.

Der hohe Torbogen – hier und heute – ein Widerpart zum historischen triumphalen Eingang des Konzentrationslagers, durch den die Gefangenen auf erniedrigende, zynisch-brutale Weise von den Wachtposten gejagt wurden.

Esterwegen – eines von 15 Lagern im Emsland. Zahlen rotieren an mir vorbei: Ca. 80.000 KZ-Häftlinge und Strafgefangene sowie weit über 100.000 Kriegsgefangene werden bis Kriegsende in diesen 15 Emslandlagern inhaftiert, entwürdigt, erniedrigt, gequält. Bis zu 30.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Wer zählt all diejenigen, die später an den Folgen dieser Gefangenschaft starben? Und wer kann ermessen, wie viel Leid über die jungen Frauen, Kinder, Eltern hereinbrach, deren Männer, Väter und Söhne hier durch Willkür leiden mussten? Doch bei all dem – eine nicht zu brechende, trotzige Hoffnung, die Andreas Knapp in einer Strophe seines Gedichts für Esterwegen so beschreibt:

“sie haken uns ab
und treiben uns in die schwarzen Gräber
wir jedoch
den Moorleichen nahe
und siehe: wir leben“.

Ich schaue mich auf dem Lagergelände um – Gras, Kräuter, die viele von uns als Unkräuter abtun würden, Steine, von den Gefangenen unter unmenschlichen Umständen aus großen Blöcken herausgehauen – Bäume, Vogelgezwitscher. Die Idylle täuscht – die Bäume wurden erst später gepflanzt. Die Gefangenen konnten sich auf dem Gelände nicht verstecken – alles war überschaubar, Flucht absolut ausgeschlossen.

„Auf und nieder geh’n die Posten,
keiner, keiner kann hindurch
Flucht wird nur das Leben kosten,
vierfach ist umzäunt die Burg.“

Das Lied der Moorsoldaten – 1933 in dem benachbarten Lager Börgermoor geschrieben. Die wenigen Zeilen reißen nur knapp das Elend an, dem die Häftlinge hier ausgesetzt waren, welcher Verzweiflung und welchen Ängsten sie unterworfen wurden.

Dann wieder das Gute, das sich auch im Bereich der größten Dunkelheit immer wieder den Weg bahnt – selbst unter Lebensgefahr: Die Hand, die unbemerkt Brot reicht, die Verstecke, an denen die Ausgehungerten Nahrung zum Weiterleben finden, die Hilfe, die man sich gegenseitig schenkt. Menschlichkeit inmitten aller Unbarmherzigkeit. Liebe im Raum des Hasses und der Menschenverachtung.

Im Kloster – Raum der Sprachlosigkeit. Mir geht das Unfassbare nicht aus dem Sinn. Das Wort Jesu am Kreuz „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ will hier irgendwie nicht passen – oder eben doch … gerade hier? Die Täter – sie wussten, was sie taten … Doch hier an diesem Ort der Sprachlosigkeit gilt: Erinnerung wach halten – nicht um im Vergangenen hängen zu bleiben, sondern um in sich die Hoffnung erstehen zu lassen auf eine bessere Zukunft – eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden, eine Zukunft, in der die Würde des Menschen nicht mit Füßen getreten wird, eine Zukunft, in der die Bewahrung der Schöpfung im Mittelpunkt unseres Strebens steht, eine Zukunft, die auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch zukunftsfähiges,lebenswertes Leben möglich macht.

Erinnerung wachhalten!
Wegweiser einer neuen Hoffnung werden …

Während wir durch das Kloster gehen, in den Klostergarten mit dem Turm aus weißen Ziegelsteinen, auf denen Schüler und andere Besucher ihre Gedanken ausdrücken können, höre ich im Vorbeigehen in die Gesprächsfetzen anderer Besucher hinein: Verfolgung, Krieg, Bunker, Angst … Ich lese mich an der Ziegelsteinpyramide in der Mitte des Klostergartens entlang – Satzfragmente, wie sie heute so oft vorkommen: fast oberflächlich bei der ersten Betrachtung: Angst vor dem Abi, Angst vor der Berufswahl, Zukunftsangst … Erst bei längerem Hinschauen bröckelt die Oberfläche. Die scheinbar locker hingeschriebenen Stakkato-Sätze machen die Sprachlosigkeit der jungen Besucher über das Grauen greifbar, das weit über das Vorstellbare hinausreicht – junge Menschen im Hier und Heute begegnen jungen Menschen der damaligen Zeit. Die einen haben die Zukunft vor sich – die anderen den Tod vor Augen. Der Abgrund zwischen dem Damals und dem Hier und Jetzt offenbart sich an diesen weißen Ziegeln im Garten.

Zurück – der Bus hält vor St. Sophien – ich wäre jetzt gern noch in die Kirche gegangen. Doch dort ist Konzert. Und plötzlich fällt mir das Bild in der Seitennische ein – das so oft übersehene, auch von mir. Johannes Prassek, einer der vier Lübecker Märtyrer, der als junger Kaplan wegen seiner Widerständ
igkeit gegen das Nazi-Regime unter dem Fallbeil hier in Hamburg an der Holstenglacis sein junges Leben lassen musste. Johannes Prassek – einer von uns – einer aus St. Sophien – auch hier wieder der Abgrund zwischen dem Damals und dem Hier und Jetzt.
Wieder vor der Kirche St. Sophien angekommen wird mir klar: Auch wir als Gemeinde haben hier an diesem – unserem – Ort mit „unserem“ Märtyrer Johannes Prassek die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten – nicht um darin hängen zu bleiben, sondern um einer besseren Zukunft willen, nicht allein für uns, sondern vor allem auch für die kommenden Generationen.


Photos: Martina Palm, Manfred Wachter
Text: Anja Andersen